In jenen Tagen - Helmut Käutner (1947)

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Maulwurf
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In jenen Tagen - Helmut Käutner (1947)

Beitrag von Maulwurf »

 
In jenen Tagen
Deutschland 1947
Regie: Helmut Käutner
Gert Schäfer, Erich Schellow, Winnie Markus, Werner Hinz, Karl John, Erich Weiher, Alice Treff, Franz Schafheitlin, Hans Nielsen, Gisela Tantau, Ida Ehre, Willy Maertens, Erica Balqué, Eva Gotthardt, Hermann Schomberg, Kurt Meister, Hermann Speelmans, Fritz Wagner, Hans Mahnke, Isa Vermehren, Margarete Haagen, Franz Weber, Erwin Geschonneck, Carl Raddatz, Bettina Moissi, Elly Klippe, Birgit Schoregge, Rudolf Jugert, Helmut Käutner


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1947 – Während es ausgeschlachtet wird, erinnert sich ein Auto an verschiedene Episoden in seinem Leben. So steht an der Windschutzscheibe das Datum seines zweiten Lebenstages: Der 30. Januar 1933. Peter Keyser hat das Auto seiner angebeteten Sybille geschenkt, sie möchte mit dem Auto doch bitte nach Berlin kommen. Auf dem Weg dorthin trifft sie zufällig Steffen, der am nächsten Tag Deutschland verlassen wird und Sybille mitnehmen will. Sie weigert sich und möchte lieber mit Peter in die Oper, gemeinsam bleibt man aber in den Menschenmassen rund um die Reichskanzlei stecken. Als Sybille zufällig erwähnt, dass sie Steffen traf und dieser abreisen wird, kommt Peter auf den Grund für die überstürzte Reise: Steffen wäre unter den ersten, die „die da sich schnappen“ würden. Sybille bekommt Mitleid mit Steffen und muss sich entscheiden …

Der Komponist und Pianist Grunelius plant eine Konzertreise. Nach der Tournee macht er mit der befreundeten Familie Buschhagen einen Ausflug aufs Land, wo er erzählt, dass die Konzerte alle abgeblasen wurden. Spielen darf er noch, aber er wird nie wieder komponieren dürfen. Weil im Auto ein Kamm vergessen wurde kommt die junge Angela darauf, dass Grunelius in diesen Tagen mit ihrer Mutter zusammen war, anstatt, wie diese erzählt, bei Freunden in Bremen. Eine Welt stürzt für sie zusammen.

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Das Ehepaar Bienert ist seit 31 Jahren – Nein, es sind 32 Jahre! – verheiratet. Sie haben ein Geschäft für Bilderrahmen, und nach all den Jahren und über dem Alltag im Geschäft ist die Ehe längst in Floskeln erstarrt. An diesem Tag packt Sally Bienert das Auto komplett voll und fährt mit ihrem Mann aufs Land, wo man eine kleine Parzelle besitzt. Das ist sowieso die letzte Fahrt für sie, der Bescheid, dass sie nicht mehr Autofahren darf, ist heute gekommen. Das Nachbargeschäft schreibt die jüdischen Namen der Besitzer bereits in großen weißen Lettern ins Schaufenster, aber Wilhelm Bienert weigert sich noch standhaft. Das Geschäft läuft mittlerweile sowieso auf ihn, denn er ist Arier, im Gegensatz zu seiner jüdischen Frau. Am abendlichen Feuer gesteht Sally ihrem Wilhelm, dass sie die Scheidung will, weil sie als Jüdin das Geschäft schädigt, und weil die Ehe doch eh längst erkaltet ist. Durch diese Aussprache kommen die beiden sich wieder nahe, und fahren am Abend zurück nach Berlin. Direkt hinein in die Reichskristallnacht …

Dorothea ist verzweifelt. Ihr Mann Jochen ist mit ein paar Männern aus dem Büro fortgegangen und seitdem verschwunden. Krankenhäuser, Polizei, keiner weiß Bescheid. Selbst im Gefängnis der SS fragt sie nach, aber auch dort weiß niemand etwas über den Verbleib ihres Mannes, „aber sehr höflich sind sie dort“. Dorotheas kleiner Schwester Ruth obliegt es zu gestehen, dass sie und Jochen schon lange ein Verhältnis haben, und auch schon seit geraumer Zeit Fluchtwege für den Widerstand organisieren. Dorothea ist am Boden zerstört. Von einem Bekannten erfährt Dorothea, dass Jochen „auf der Flucht erschossen“ wurde, und dass nun nach der Frau gefahndet würde, mit der er das Land verlassen wollte. Dorothea ruft Ruth an um ihr zu erklären, dass Jochen in Sicherheit sei, womit sie die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt und Ruth in Sicherheit bringt. Am nächsten Morgen wird Dorothea von der Gestapo abgeholt, und das Auto von der Wehrmacht requiriert.

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An der Ostfront soll der Soldat Hintze einen Leutnant am Bahnhof abholen und in sein Einsatzgebiet fahren. Der Leutnant ist noch neu, zumindest in Russland („Ich war doch in Polen!“ „Herr Leutnant, das hier ist nicht Polen, das ist Russland. Polen war ein Feldzug, das hier ist Krieg.“), und besteht darauf, sofort durch das von Partisanen kontrollierte Gebiet zu fahren, trotz aufziehenden Vollmondes. Eine Fahrt von fünf bis sieben Stunden beginnt. 5 bis 7 Stunden? Na ja, Herr Leutnant, kommt darauf an ob uns die Partisanen in Ruhe lassen …

Dann landet das Auto wieder in Berlin, wo das Mädchen Erna ihre frühere Arbeitgeberin, die Baronin von Thorn, versucht aus der Stadt zu bringen. Das Auto ist geliehen, sie hat keine Papiere, und von Thorn ist ein Name, den man besser nicht erwähnen sollte, seitdem der junge von Thorn als Verschwörer gegen den Führer im Juli 1944 hingerichtet wurde. Als das Kühlwasser alle und Erna auf der Suche nach Wasser ist, kommt prompt ein Gendarm der die Papiere sehen will und, als er den Namen der Baronin hört, diese und die zurückkehrende Erna verhaftet. Erst jetzt erfährt die Baronin, dass Erna von der Beteiligung des Sohnes an dem Attentat auf Hitler wusste, und sich wissentlich in Gefahr gebracht hat, nur um sie in Sicherheit zu bringen.

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Das Auto kommt in eine Scheune und schaut zu, wie die Flüchtlinge durch den Ort ziehen, wie die Dorfbewohner flüchten, und dann wird es ruhig. Bis eines Nachts ein Kradmelder, der sein Motorrad verloren hat, sich über es beugt und versucht, es wieder in Gang zu bringen. Dabei weckt er eine junge Flüchtlingsfrau die ihren Treck verloren hat, und die mit einem kleinen Kind in der Scheune gestrandet ist. Sie will bis nach Ihlienworth in Schleswig-Holstein, dort wollte sie sich mit ihrem Mann treffen. Der mittlerweile aber schon längst tot ist. Die beiden finden Gefallen aneinander und liegen nebeneinander im Heu, die Ruhe und die Nähe des jeweils anderen genießend. Wie heißt Du eigentlich? Maria. Ich heiße Joseph …
Trotz seines Gestellungsbefehls bringt der Soldat Maria nach Hamburg, bei der Rückfahrt gerät er allerdings in eine Patrouille der Feldjäger und wird verhaftet. Doch einer der Kettenhunde hat Mitleid und gibt ihm eine Chance zur Flucht.

In der Rahmenhandlung sehen wir Herrn Willi und Herrn Karl, wie sie die Bestandteile des Autos bearbeiten und die Karosserie letzten Endes ausschlachten. Sie finden das Datum in der Scheibe (das sie als Telefonnummer missinterpretierten) und einen Schildpattkamm. Sie sehen Herrn Bienerts Huthalter, angebracht am Armaturenbrett, ein Hufeisen, in dem einmal Dorotheas Bild steckte, die von Partisanenkugeln durchsiebte Fahrertür und das Stroh aus der Scheune. Karl ist deprimiert, und zweifelt daran, dass es überhaupt noch Menschlichkeit gibt. Das Auto, welches die beiden Männer freilich nicht hören können, schaltet sich in das Gespräch ein und erzählt dem Zuschauer die kleinen Geschichten von Opfermut in einer unmenschlichen Zeit.

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Und mit diesem Rückblick und der gleichzeitigen Aussicht auf Menschlichkeit, aber auch mit einer sehr großen Melancholie, entlässt der Film dann den Zuschauer. Die Kamera schwenkt über die Ruinen von Hamburg – Der Zuschauer von damals sieht nach dem Verlassen des Kinos das gleiche wie auf der Leinwand, während der Zuschauer von heute stumm bleibt angesichts solchen Grauens und der darin versteckten Zeugnisse von Menschlichkeit und Wärme. Aber auch angesichts der subtilen Entschuldigungen, warum man denn nichts gemacht habe. Warum das Grauen langsam und schleichend kam, und während alle darunter zunehmend gelitten haben, sich doch kaum einer gewehrt hat.

Denn in den kalten Tagen des Jahres 1947 hält der Magier Käutner den Menschen einen Spiegel vor, fragt sie geschickt wo sie denn waren, in jenen Tagen. Beim Fackelzug bei der Wahl des Reichskanzlers, in der Reichskristallnacht, im Widerstand, im Krieg, aber auch ganz am Ende, als für die Menschen in Deutschland (und beileibe nicht nur dort) alles, aber auch wirklich alles zusammenstürzte. Wer den Film damals sah hatte die dargestellten 12 Jahre in bester Erinnerung, somit kann man davon ausgehen, dass Käutner sich hier wenig inszenatorische Freiheiten erlauben konnte oder wollte. Sondern dass er die Realität so abgebildet hat wie sie erlebt wurde, unverfälscht und nicht reinterpretiert von späteren Historikern oder Revisionisten, sondern echt und wahrhaft. Und dabei fällt mir aus der heutigen Sicht auf, mit wieviel Respekt und Würde sich die Menschen damals gegenseitig oft behandelt haben. Wie selbst in den schlimmen Tagen im Frühjahr 1945 mehr Mitmenschlichkeit und Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander an der Tagesordnung war, als im heutigen Alltagsleben in einer überfüllten Straßenbahn oder im Stress des alltäglichen Berufslebens. Oder wollte Käutner einfach nur Mut machen? Den Menschen, die damals im Kino saßen, Mut zureden und erklären, dass alles auch wieder besser werden wird? Gleich, ob sie wie Dorothea oder Erna waren, mutig und stark, oder mehr wie Sally und Sybille, die sich zurückzogen und aus der Gefahrenlinie brachten.

Doch diesen positiven Ausblick als Botschaft kann ich mir nicht vorstellen, denn der fehlt. Die letzten Kameraeinstellungen vom zerstörten Hamburg lassen wenig Optimismus zu, und die Aussage „Es wird schon irgendwie weitergehen“, die Käutners Kollege Harald Braun dem im gleichen Jahr entstandenen ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN voranstellt, die fehlt ebenfalls. Käutners Blick ist ausgesprochen melancholisch, und bei aller Grausamkeit immer mit einer leichten Verklärung versehen, und während die Kamera über die Ruinen schweift, und Herr Karl zwar langsam wieder Mut fasst weil es ja wahrscheinlich doch irgendwie weitergeht, kann der damalige Zuschauer in den kleinen Erzählungen mit Sicherheit eine Geschichte finden, mit der er sich identifizieren kann. In der er eine Rechtfertigung dafür findet, nichts getan zu haben. Was dem Kino der frühen Nachkriegsjahre so gerne vorgeworfen wird, dass die Entschuldigungen und die Ausflüchte geliefert werden, die diese Generation dann so gerne mit sich herumgetragen hat, diesen Vorwurf kann man Käutner sehr wohl machen. Was aber nichts daran ändert, dass IN JENEN TAGEN ein interessanter, spannender und realistischer Blick auf eine Zeit ist, die wir heute nur noch aus dem Schulunterricht und von Guido Knopp kennen, und die in diesem Film bemerkenswert anders aussieht. Kleinbürgerlicher, und irgendwie – normaler …

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