Der junge Häuptling Winnetou - Mike Marzuk (2022)

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Salvatore Baccaro
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Der junge Häuptling Winnetou - Mike Marzuk (2022)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Der junge Häuptling Winnetou

Produktionsland: Deutschland 2022

Regie: Mike Marzuk

Cast: Mika Ullritz, Milo Haaf, Lola Linnéa Padotzke, Mehmet Kurtulus, Anatole Taubman, Hildegard Schmahl


Im Spätsommer 2022 ist der Name Karl May plötzlich wieder in aller Mund, jedoch nicht unbedingt im positiven Sinne. Schuld daran trägt der Ravensburger Kinderbuchverlag. Der nämlich stoppt Mitte August die Auslieferung mehrerer Bücher, eines Sticker-Albums sowie eines Puzzles, die anlässlich eines kurz zuvor in die Kinos gelangten Kinderfilms nach May-Motiven produziert worden sind, und bezüglich derer es negative Rückmeldungen von der Kundenschaft hagelte, die die Darstellung des Wilden Westens und der amerikanischen Ureinwohner, vorsichtig gesagt, als nicht mehr zeitgemäß betrachtete. Auf Instagram lässt der Verlag zu seiner Entscheidung, die Artikel komplett aus dem Sortiment zu nehmen, verlautbaren: „Unsere Redakteur*innen beschäftigen sich intensiv mit Themen wie Diversität oder kultureller Aneignung. Die Kolleg*innen diskutieren die Folgen für das künftige Programm und überarbeiten Titel für Titel unser bestehendes Sortiment. Dabei ziehen sie auch externe Fachberater zu Rate oder setzen ,Sensitivity Reader‘ ein, die unsere Titel kritisch auf den richtigen Umgang mit sensiblen Themen prüfen.“ Trotz all dieser schon im Vorfeld betriebener Anstrengungen, ein möglichst politisch korrektes Produkt auf den Markt zu werfen, sei der Verlag jedoch am eigenen hehren Anspruch gescheitert. Die einzige Konsequenz: Das Teufelszeug direktemang einstampfen!

Ganz anders klingt demgegenüber die Meinung der Deutschen Film- und Medienbewertungsstelle, die den Film, auf den sich die besagten Bücher beziehen, mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“ adelte. In ihrer Urteilsbegründung verhehlt die FBW zwar nicht, dass es intern heftige Diskussionen darüber begeben habe, wie man dem Film begegnen solle, kommt letztendlich aber doch zum Schluss, dass es sich um einen „gelungenen Kinderfilm“ handele, „der einem großen Familienpublikum sicher viel Freude bereitet wird.“ Beide Meinungen klaffen in der Folge auch im Feuilleton, in Talkshows, an Stammtischen auseinander: auf der einen Seite empörtes Echauffieren, dass einem die um sich greifende Cancel Culture nun auch noch den allerletzten kulturellen Stereotypen rauben würde; auf der anderen Seite empörte Ermahnungen, dass man doch im Jahre 2022 keinen Film mehr gut finden dürfe, der sich auf Klischees ausruhe, die schon um die letzte Jahrtausendwende antiquiert gewirkt haben müssen.

Wie so oft liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Das sage zumindest ich, der es kürzlich auf sich genommen hatte, sich das Streitobjekt einmal von Anfang bis Ende und möglichst unvoreingenommen anzuschauen. Der fragliche Streifen heißt DER JUNGE HÄUPTLING WINNETOU, wurde bereits 2020 in der spanischen Provinz Alméria gedreht, wo in den 60ern und 70ern mehr Euro-Western entstanden als wahrscheinlich irgendein Mensch jemals wird anschauen können, und basiert inhaltlich offenbar auf einem Kindermusical, das wiederum eine Art Prequel-Story zu Karl Mays allererstem Winnetou-Roman von 1893 erzählt.

Das Drehbuch tischt uns folgende Wildwestpistole auf: Winnetou ist zwölf Jahre alt und offenkundig tiefverstrickt in seiner Vorpubertät, immerhin will er seinem gesamten Apachen-Stamm permanent beweisen, dass er es bereits mit den größten Kriegern desselben aufzunehmen vermag. Seinem Vater, Häuptling Intschu-tschuna, passt das freilich wenig, zumal Winnetou sich mit seinem zügellosen Tatendrang immer wieder in Schwierigkeiten bringt, und zuweilen auch seine Mitmenschen mit ins Unglück reißt. Letzteres geschieht in epochalem Ausmaß, als er eines Nachts unbedingt Schichtdienst am Lagerfeuer übernehmen möchte, an dem jeweils ein Wachposten garantiert, dass die Apachen nicht im Schutz der Dunkelheit von einem feindlichen Stamm überfallen werden. Da Intschu-tschuna dies partout nicht erlaubt, behauptet Winnetou einfach vor der wachhabenden Kriegerin, es sei ihm gestattet worden, ihre Wachablösung zu sein – und natürlich schläft der Bub nach kurzer Zeit ein und bekommt dadurch nicht mit, dass böse Mächte die komplette Bisonherde der Apachen entführen. Jedenfalls sind die Hornviecher am nächsten Morgen spurlos verschwunden und Winnetou muss die Standpauke seines jungen Lebens erdulden, und das, obwohl er immerhin ein etwa gleichaltriges Bleichgesicht erwischt hat, dass den Apachen mutmaßlich auch noch ihre Pferde hatte stehlen wollen. Der Bub nennt sich Tom Silver, erklärt, mit dem Bisonraub habe er nichts zu tun, wisse aber, wo die vierbeinige Lebensgrundlage der Apachen hingekommen sei, was Winnetou Anlass genug ist, noch einmal gegen den Willen seines Vaters zu handeln: Kurzerhand macht er sich mit Tom als seinem Gefangenen auf, die Tiere auf eigene Faust zurückzuholen und seinen vergangenen Fehler somit wiedergutzumachen. Auf der Reise durch den gar nicht mal so wilden, sondern eher weitgehend zahmen Westen bekommen es die beiden Jungen und Winnetous kleine Schwester Nscho-tschi, die sich den Bengeln zwischenzeitlich anschließt, nicht nur mit fiesen Rinderdieben, psychopathischen Revolverhelden und resoluten Salondamen zu tun, sie lernen vor allem auch Dinge wie Freundschaft, Toleranz, Eigenverantwortung kennen – und so ziemlich jedes Western-Klischee, das es jenseits der Ewigen Jagdgründe jemals in ein kulturelles Artefakt geschafft hat.

Im Grunde hängt es wahrscheinlich damit zusammen, mit welchem Mindset man an DER JUNGE HÄUPTLING WINNETOU herangeht, ob man den Film bis zum Abspann erträgt oder nicht. Wenn man hofft, hier würde ein authentisches Bild des Wilden Westens geboten, sprich, dass gerade bei der Darstellung der Native Americans irgendein Kostüm, irgendein Gebrauchsgegenstand, irgendein Federschmuck nicht den Eindruck erwecken würde, aus dem Fundus des lokalen Karnevalsverband zu stammen, oder dass auch nur der Versuch unternommen werden würde, die zugrundeliegende Geschichte zwar kindgerecht zu belassen, trotzdem aber mit etwas, sagen wir, realitätsnäheren Untertönen zu füttern, wird man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen darüber, wie unreflektiert der Film mit seinen Genre-Vorbildern umgeht: Ein bisschen erinnert es ja durchaus an den SCHUH DES MANITOU, dieses Stereotypen-Feuerwerk, mit dem Unterschied aber, dass Bully Herbigs Film immerhin von Anfang an als Persiflage intendiert gewesen ist. Wenn man sich allerdings gleich zu Beginn klarmacht, dass man einen Film geboten bekommen wird, der Realismus und Authentizität nicht mal dem Begriff nach kennt, und dem es ein ernsthaftes Anliegen zu sein scheint, so ziemlich alles, was es an Standardsituationen und -tropen im Westerngenre gibt, eins zu eins ohne die mindeste ironische Brechung zu adaptieren (wenn auch, gemessen am Zielpublikum, zu infantilisieren), der also tatsächlich mit dem wahren Schicksal der Apachen so viel zu tun hat wie eine Gruppe Betrunkener im Indianerzwirn beim Kölner Straßenkarneval, der kann diesen JUNGEN HÄUPTLING wohl tatsächlich als harm- und belanglosen, wenn auch irgendwie völlig überflüssigen Kinderfilm rezipieren, der weder wehtut noch irgendwelche Wunden heilt.

Dass die Apachen ständig salbungsvolle Sentenzen schwadronieren, die ihre Weltweisheit und Naturverbundenheit ausdrücken sollen, und selbst der halbwüchsige Winnetou teilweise Kalendersprüche aufsagt; dass Hildegard Schmahl als Winnetous Großmutter eine New-Age-Schamanin spielt, deren entrückt-wässriger Blick und weißes Gewand eher an eine weihrauchbenebelte Yoga-Lehrerin erinnert; dass der ziemlich furchtbare Soundtrack sich anhört wie eine Pervertierung autochthoner Folklore des amerikanischen Westens – das alles bringt Anhänger der Rezeptions-Variante Nummer Eins sicher im Sekundentakt auf die Palme. Größten Anstoß erregte indes eine Szene, die ich im Kontext dieser geballten Ladung an Klischees dann doch recht unproblematisch fand: Da fragt Tom Silver seinen neuen Freund aus heiterem Himmel, ob denn Indianer überhaupt schwitzen würden. Winnetou reagiert irritiert: Wieso sollten sie denn nicht? Zeigt das nicht viel eher, welche Klischees der europäischstämmige Bub in Bezug auf die Ureinwohner Amerikas mit sich herumträgt, und damit, was für eine (kulturelle) Kluft anfangs zwischen Tom und Winnetou klafft? Möglicherweise ist das sogar der einzige Moment, in dem man dem Film unterstellen kann, so etwas wie ein Metabewusstsein dafür zu entwickeln, was er da eigentlich für einen Faschingszauber veranstaltet: Ansonsten nämlich geht dem JUNGEN HÄUPTLING WINNETOU – und das kann man ihm natürlich auch gut und gerne ankreiden – jedwede Form der Selbstreflexion ab – und das nicht nur in Hinblick darauf, dass er einmal mehr Geschichte und Kultur der Native Americans aus eurozentrischer Sicht über Gebühr romantisiert aka entstellt, sondern nicht zuletzt, was die eigene literarische Vorlage betrifft.

Was nämlich, habe ich mich die ganze Zeit gefragt, legitimiert es denn überhaupt, dass man einen weiteren Winnetou-Film dreht, circa 60 Jahre, nachdem die Klassiker mit Lex Barker und Pierre Brice zu den erfolgreichsten Streifen der Bundesrepublik avanciert sind? Meiner Meinung nach zumindest künstlerisch angesichts des vorliegenden Resultats nicht viel, denn DER JUNGE HÄUPTLING WINNETOU arbeitet sich weder, wie gesagt, augenzwinkernd an seinen Vorläufern ab, noch setzt er irgendwelche eigenen innovativen Impulse. Dem May-Stoff wird nichts hinzugefügt, er wird einfach nur sklavisch für ein ganz junges Publikum wiederholt. Das heißt leider auch: Klamauk wird hier großgeschrieben, Comic-Relief-Charaktere gibt es zuhauf, gegen die selbst Eddi Arendt und Ralf Wolter in den Originalfilmen plötzlich wie die personifizierte Seriosität wirken, dümmlichen Slapstick ebenso. Und andauernd fällt der Name „Tom Silver“, wie um das Publikum gebetsmühlenartig darauf hinzuweisen: Nein, das ist eben nicht Old Shatterhand, sondern eher eine Art Tom-Sawyer-Imitat! Ansonsten werden Figuren aus den May-Romanen und -Verfilmungen recht lieblos und, wie beim jungen Sam Hawkens, reichlich unmotiviert in die mäandernde Handlung hineingeworfen – und letztendlich hätte man jedwede May-Bezüge auch kappen und einfach die Originalgeschichte irgendeines Apachenknaben erzählen können, wenn es nicht doch gute Gründe, nämlich wahrscheinlich diejenigen ökonomischer Natur, gegeben hätte, sich des Franchise zu bedienen.

Eine Sache noch, die mich ziemlich überrascht hat: Antagonist in DER JUNGE HÄUPTLING WINNETOU ist eine Figur, die bei May nicht vorkommt, sondern extra für diesen Film ersonnen wurde. Der Kerl nennt sich Todd Crow, ist die Habgier in Person und hat als Lebensziel, die Apachen von ihren angestammten Weidegründen zu vertreiben, um sich ihrer Goldschätze zu bemächtigen. Interessant hierbei ist, dass die Figur eindeutig als queer markiert wird: Crow, der stets in Schwarz auftritt und offenkundig gar mit Krähenvögeln kommunizieren kann, trägt feminin konnotierte Mäntel, schminkt sich, besitzt einen Habitus, den man despektierlich als „tuntig“ bezeichnen könnte – und ausgerechnet eine solche transidente oder transsexuelle Person ist Hauptbösewicht und zugleich Witzfigur dieses Wildwestmärchens? Da musste ich tatsächlich eher an TANTE TRUDE AUS BUXTEHUDE denken statt an einen progressiven Umgang mit marginalisierten Geschlechtsidentitäten. Wie soll ich mir das vorstellen? Saßen die Verantwortlichen zusammen und dachten sich, dass mindestens eine Figur noch in den Film hineinmuss, deren Sexualität man als non-heteronormativ lesen kann, am besten in einer Hauptrolle – und weil die Rolle des Bösewichts noch unbesetzt gewesen ist, hat man den einfach zur Tunte gemacht? Immerhin aber kann man Crow-Darsteller Anatole Taubman bescheinigen, dass er seine Figur mit Leben füllt – etwas, das dem restlichen Cast leider völlig abgeht: Die Kids sind immerhin bemüht, Mehmet Kurtulus als Apachenhäuptling erinnert an Karl-May-Festspiele und bei Hildegard Schmahl würde ich freiwillig keine Yoga-Stunde nehmen. Ein guter Film sieht anders aus, Cultural Appropriation hin oder her...
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Re: Der junge Häuptling Winnetou - Mike Marzuk (2022)

Beitrag von buxtebrawler »

Vielen Dank für diese differenzierte Besprechung, Salvatore.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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