Born in Evin - Maryam Zaree (2018)

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Salvatore Baccaro
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Born in Evin - Maryam Zaree (2018)

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Originaltitel: Born in Evin

Produktionsland: Deutschland 2018

Regie: Maryam Zaree

Cast: Maryam Zaree & etliche andere Frauen, die im iranischen Gefängnis Evin inhaftiert gewesen sind


Spätestens durch die Verhaftung des iranischen Filmemachers Jafar Panahi im Juli 2022 ist das berühmt-berüchtigte Evin-Gefängnis am Stadtrand Teherans einer breiteren medialen Öffentlichkeit zurück ins Gedächtnis gerufen worden: Bereits während der Regierungszeit von Schah Mohammed Reza Pahlavis diente der 1971 errichtete Gebäudekomplex als Internierungsstätte für Regimekritiker, darunter Angehörige marxistisch-leninistischer Parteien, militante Oppositionelle und, nicht zuletzt, Anhänger islamischer Geheimorganisation. Nahtlos wechselt Evin nach Beginn der Islamischen Revolution 1979 von einer Diktatur in die nächste: Nunmehr ist es die Islamische Republik unter Vorsitz Ayatollah Khomeinis, die unliebsame Personen unter unmenschlichen Bedingungen für begrenzte Zeiträume oder bis zu ihrem nicht selten aktiv herbeigeführten Lebensende hinter die Mauern Evins verbringt: Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, Schriftsteller und Schriftstellerinnen, und eben Filmemacher wie Jafar Panahi, der wegen angeblicher „Propaganda gegen das Regime“ zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt wird. Die wenigen Bilddokumente, die es jemals aus Evin herausgeschafft haben, zeichnen ein ebenso bedrückendes Bild wie die Berichte überlebender Insassen: Die Haftbedingungen seien aus hygienischer Sicht katastrophal; in den für eine viel geringere Häftlingsanzahl konstruierten Zellen würden sich die Menschen regelrecht stapeln; zusätzlich steht Folter auf der Tageordnung, sowohl in handfester Weise durch sexuelle und physischer Gewalt, als auch durch psychologischen Terror; Hinrichtungen erfolgen eher spontan, so wie beispielweise im Sommer 1988, als mehrere tausend Evin-Häftlinge, zumeist Mitglieder der oppositionellen Volksmudschahedin, ohne vorherigen Prozess ermordet werden.

Auch die Eltern der deutsch-iranischen Schauspielerin Maryam Zaree, bekannt aus etlichen Spielfilmen sowie diversen TATORT-Folgen, saßen Ende der 80er, Anfang der 90er für Jahre in Evin, bevor sie begnadigt werden und es ihnen gelingt, Asyl in der Bundesrepublik zu erhalten. Zaree selbst ist 1983 in Evin zur Welt gekommen, - eine Tatsache, die sie viele Jahre später ganz beiläufig von einer Tante erfährt, und die sie seitdem nicht mehr loslässt, zumal weder ihre Mutter noch ihr Vater jemals ihr gegenüber ein Sterbenswörtchen über ihre Zeit in der Hölle, die das iranische Staatsgefängnis bedeutet, verloren haben. Für Maryam Zaree ist ihre eigene Geburt, wie sie zu Beginn ihres autobiographischen Dokumentarfilms BORN IN EVIN erklärt, ein blinder Fleck, die Gefangenschaft ihrer Eltern, über die niemand spricht, über die es keine Zeugnisse zu geben scheint, so etwas wie ein Gespenst, das sich nur in bestimmten Momenten plötzlich materialisiert: Einmal beispielweise reist Zaree, bereits erwachsen, durch Marokko, und erlebt bei Korangesängen, die im Autoradio ertönen, spontane Schweißausbrüche, die sich bis zur Panikattacke steigern: Ein Indiz dafür, dass sich ihr Unterbewusstes an eine bestimmte in Evin praktizierte Foltermethode erinnert, nämlich die Insassen stunden-, wenn nicht tagelang mit ohrenbetäubenden religiösen Rezitationen zu zermürben?

Vier Jahre dauern die Dreharbeiten zu BORN IN EVIN, vier Jahre, in denen Zaree einerseits auf Spurensuche nach ihrer eigenen Vergangenheit geht, ihre Eltern mit Fragen löchert, die es ihnen möglich machen sollen, die Barriere des Schweigens zu durchbrechen, sich Photos, VHS-Aufnahmen, Briefe anschaut, die aus ihrer Kindheit stammen, vier Jahre, in denen Zaree andererseits keine Mühen scheut, Menschen ausfindig zu machen, die ein ähnliches Schicksal wie sie teilen: So besucht sie einen Kongress von Exil-Iranerinnen in Florenz, von denen nicht wenige aus politischen Gründen ebenfalls Evin von innen kennengelernt haben, oder trifft in Kalifornien eine etwa gleichaltrige Frau, die ebenfalls in Evin das Licht der Welt erblickt hat. Erklärtes Ziel der Regisseurin ist es, über den Weg der Aufarbeitung ihrer eigenen Familiengeschichte Hilfestellung für andere zu leisten, vererbte Traumata durch Verbalisierung aufzubrechen und, vielleicht, zu zähmen. Natürlich ist dieser Weg ein dornenreicher: Immer wieder erzählen die Frauen, die Zaree befragt, nebenbei von unvorstellbaren Grausamkeiten, davon, wie sich eine Frau beim Gebären in Evin vor lauter Angst, durch ihr Schreien die Wärter auf den Plan zu rufen, so heftig auf die Zunge gebissen habe, dass diese abgetrennt worden sei, von den Schlägen, die auf sie einprasselten, wenn ihr Tschador nicht züchtig genug gesessen habe, von kleinen Gesten der Solidarität wie dieser: Einer Frau, die auf ihre baldige Hinrichtung wartet, wird ihr letzter Wunsch, eine Zigarette, verweigert; deshalb zieht sich eine andere Frau mit ihr in eine Zellenecke zurück und gemeinsam tun sie so, als würden sie sich eine Kippe anzünden.

Es wird viel geweint in BORN IN EVIN: Zarees Interviewpartnerinnen vergießen Tränen; sie selbst kann ihre Emotionen manches Mal nicht zurückhalten; im Finale weint ihre Mutter, wenn sie Zaree die Gründe auseinandersetzt, weshalb sie so lange geschwiegen habe, weshalb sie nie eine Notwendigkeit darin sah, ihre Tochter in die Hölle mitzunehmen, in der sie gewesen ist. Das kann man als unangenehmen Seelenstriptease empfinden, sicher. Oder aber als mutigen Ansatz, der die eigene Verzweiflung, die eigene Wut, die eigene Trauer nicht unter eine nüchterne Oberfläche kehren möchte, - zumal BORN IN EVIN sich zu keinem Zeitpunkt in salzverkrustetem Selbstmitleid suhlt, sondern immer Hoffnung schürt, immer konstruktiv wirkt, immer den Blick nach vorne richtet. Nicht umsonst sind in die Reportage-Szenen äußerst symbolträchtige Sequenzen eingestreut: Zaree in der (kalifornischen?) Wüste, wie sie mit einem Fallschirm landet; Zaree, die den Fallschirm beim Umherstreifen durch die Einöde hinter sich herschleppt; Zaree, die die Seile des Fallschirms endlich zerschneidet, und ohne diese Last weiterzieht. Zu hören sind als musikalisches Leitmotiv hierbei Songs des iranischen Musikers Kourosh Yaghmaei, der vor der Islamischen Revolution eine wundervolle Mixtur persischer Folkflore und psychedelischer Popmusik pflegte, dem später von Khomeini-Anhängern seine Instrumente zertrümmert wurden, und der sich noch später mit dem Aufnehmen von Kinderkassetten über Wasser hielt. Für mich ist BORN IN EVIN eine der aufwühlendsten Dokumentationen, die ich in letzter Zeit gesehen habe.
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