The Grand Bizarre - Jodie Mack (2018)

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Salvatore Baccaro
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The Grand Bizarre - Jodie Mack (2018)

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Originaltitel: The Grand Bizarre

Produktionsland: USA 2018

Regie: Jodie Mack

Cast: Textilien und Stoffe aus aller Welt


…und kurz vor Zapfenstreich dieses wundersamen Jahres muss ich noch ein paar Zeilen zu einem der wundersamsten Filme verlieren, die ich in diesem wundersamen Jahr auf der großen Leinwand sichten durfte:

Vor ihrem ersten Stop-Motion-Langfilm THE GRAND BIZARRE, dessen Laufzeit sich bei circa einer Stunde einpendelt, hat die US-Amerikanerin Jodie Mack (Jahrgang 1983) bereits etliche animierte Kurzfilme realisiert. Da sie deshalb zu Festivals aller Herren und Frauen Länder eingeladen ist, beginnt sie, audiovisuelle Eindrücke all der fremden Länder von Mexiko über Polen, China, Griechenland bis Indonesien zu sammeln. Mehr und mehr tritt der Gedanke, einen Film allein aus ihren Reiseimpressionen zu montieren, in den Vordergrund, weshalb Mack bald keinen äußeren Grund mehr braucht, rund um den Globus auf die Jagd nach spannenden Aufnahmen zu gehen. Was die Regisseurin vor allem interessiert, das sind Textilien, Gewebe, Tücher, die Frage, wie Stoffmuster unterschiedlicher kultureller Kontexte und Kontinente einander ähneln. Grundlegendes Thema ihres Großprojekts werden dementsprechend Phänomene der Globalisierung: Die Wege, die Kleidungsstücke zurücklegen, bis es sie aus einer Textilfabrik in den Slums von Bangladesch in einen 1-Euro-Shop irgendwo in Europa verschlagen hat; die Gemeinsamkeiten, die die Rhythmen von Musikstücken oder Maschinenlärm international vereint; wie ästhetische Formen durch die Welt wabern und sich scheinbar von selbst miteinander verweben.

Anvertraut werden all die stilisierten, zumeist statischen Bilder einer 16mm-Bolex-Kamera, die völlig ohne Strom auskommt, rein übers Kurbeln funktioniert, und mit der Mack vorzugsweise Einzelbilder schießt: In der Montage entstehen dadurch Bewegungsabläufe eigentlich lebloser Materie, die an ähnliche Experimente von Avantgarde-Klassikern wie Hans Richter oder Walerian Borowczyk erinnern, wenn Tücher, die Mack außerhalb des Kaders vor den Rückspiegel eines Motorrads hält, im Sekundentakt ihre Farbe wechseln, wenn Kleidungsstücke von selbst Schritt für Schritt die Stufen einer Treppe hinab zu kriechen scheinen, oder wenn ein Textil steif vor einer Mauer hängt und die verrinnende Zeit einzig durch den Schatten eines gegenüberliegendes Gebäudes veranschaulicht wird, der sich langsam, aber sicher über dem Stück Stoff ausbreitet. Im Zeitraffer arbeiten die Maschinen an verschiedenen Produktionsstätten; ähnlich rapide geben sich Handtücher, die über die Stühle an Deck eines Schiffes geworfen sind, die Klinke in die Hand; mehrfach verzichtet Mack ganz darauf, uns irgendetwas über die konkrete Umgebung zu verraten, in der sie die jeweiligen Gewebe photographiert hat, entkontextualisiert sie vollkommen von Landschaften, Menschen, Architekturen, die uns Anhaltspunkte darüber hätten geben können, wo auf dem Erdenball wir uns gerade grob befinden: In solchen Momenten stürzt sich THE GRAND BIZARRE kopfüber in eine reine Abstraktion, die wiederum an Avantgarde-Klassiker wie Walter Ruttmann oder Oskar Fischinger erinnert, und lässt Detailaufnahmen von Schals, Pullovern, Zierdeckchen in Großaufnahme vor ihrer Kameralinse vorbeiziehen, dass sich bei all den knallbunten Ornamenten unweigerlich ein psychedelischer Effekt einstellt.

Aber sowieso sind Landschaften, Menschen, Architekturen stets bloße Hintergrundfolie: Die Textilien stellen die eigentlichen Hauptdarsteller dar, - weshalb THE GRAND BIZARRE folgerichtig auch auf jedweden Off-Kommentar verzichtet, und seine Tonspur rein mit Assoziationen an die Minimal Music eines Philipp Glass weckenden Klangcollagen füllt: Auch die einzelnen Töne von Synthesizern, exotischer Instrumente oder Originalgeräuschen hören sich an, als seien sie kleinteilig aus sekundenbruchteillangen Sequenzen zusammengesetzt worden, und gehen dadurch mit den atemlos aufeinanderfolgen Bildern, die meinen Augen kaum eine Verschnaufpause gönnen, eine Liaison ein, die zeitgleich aufpeitschend und anstrengend, gerade durch ihren Overkill aber genauso meditativ und beruhigend wirken kann. Bei dem ästhetischen Vergnügen, das THE GRANZ BIZARRE bereitet, fällt es mir zwar schwer, die politischen Subtexte, die der Film angeblich beinhalten soll, wirklich explizit wahrzunehmen – (natürlich kann man Macks Projekt als Kritik an Globalisierung, Kapitalismus, Neo-Kolonialismus interpretieren, zwangsläufig ist dies jedoch nicht, und ebenso gut könnte ich verstehen, wenn man dem Film vorwerfen wollen würde, eine solche valide Kritik eskapistischem Ästhetizismus zu opfern) –, dafür ist THE GRAND BIZARRE indes einer der visuell umwerfendsten, soundtechnisch filigransten, originellsten Experimentalfilme, die ich in diesem wundersamen Jahr sehen durfte, - und dann auch noch auf der großen Leinwand…

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