Moderne Zeiten - Charles Chaplin (1936)

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Moderne Zeiten - Charles Chaplin (1936)

Beitrag von buxtebrawler »

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Originaltitel: Modern Times

Herstellungsland: USA / 1936

Regie: Charles Chaplin

Darsteller(innen): Charles Chaplin, Paulette Goddard, Henry Bergman, Tiny Sandford, Chester Conklin, Hank Mann, Stanley Blystone, Al Ernest Garcia, Richard Alexander, Cecil Reynolds, Mira McKinney, Murdock MacQuarrie u. A.
Charles Chaplins letzter Stummfilm folgt dem guten alten Tramp (Charles Chaplin), wie er sich seinen Weg durch das zunehmend technisierte Zeitalter bahnt. In verschiedenen Episoden als Fabrikarbeiter, Testobjekt, Patient einer Nervenheilanstalt, versehentlicher Kommunist, Gefängnisinsasse, Nachtwächter versucht er sich in unserer modernen Welt, scheitert jedoch jedes Mal, findet jedoch ein hübsches Mädchen, daß sich in ihn verliebt...
Quelle: www.ofdb.de

Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Moderne Zeiten - Charles Chaplin (1936)

Beitrag von buxtebrawler »

Auf Rollschuhen dem Abgrund entgegen

„Moderne Zeiten“ war Charles „Charlie“ Chaplins letzter Stummfilm, im Jahre 1936 ein Stummfilm zu unlängst angebrochenen Tonfilmzeiten – bzw. eine Art Hybrid aus beidem. Für Regie, Produktion, Drehbuch, Musik und Schnitt zeichnet Chaplin höchstpersönlich verantwortlich. Der Schwarzweißfilm entstand zu Zeiten der Großen Depression (Weltwirtschaftskrise) und ist mit seiner Kritik an Industrialisierung und Taylorismus weit mehr als eine einfache Slapstick-Komödie, in deren Gewand sie zunächst daherkommt.

Charlie arbeitet am Fließband in einer Fabrik. Erst wird er zum Opfer eines Arbeiterfütterungsmaschinen-Prototyps und damit zum Gespött gemacht. Als er auch noch zwischen die Zahnräder der Maschine gerät, verfällt er dem Wahnsinn, sabotiert die Anlage und wird in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Unmittelbar nach seiner Entlassung wird er aufgrund eines Missverständnisses als vermeintlicher kommunistischer Rädelsführer ausgemacht, verhaftet und in eine Zelle verfrachtet. Nachdem er wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, lernt er ein obdachloses Waisenmädchen (Paulette Goddard, „Kid Millions“) kennen und lieben – und versucht, eine Arbeit zu finden, um sich und seine Liebste ernähren zu können. Schließlich vermittelt sie ihm einen Job als Kellner…

Der von einer allgegenwärtigen orchestralen musikalischen Untermalung begleitete Film eröffnet mit Texttafeln, gefolgt von Bildern einer Schafsherde mit einem einzelnen schwarzen Schaf darunter, die in einer Parallel- bzw. Assoziationsmontage übergehen in Aufnahmen zur Arbeit antretender Belegschaft. Diese ist dem modernen „Zeit ist Geld“-Kapitalismus unterworfen, Charlie in seiner klassischen Rolle als Tramp ist hier ein Teil von ihr. Totale Überwachung und „Optimierung“ herrschen vor, und aufgrund der Massenarbeitslosigkeit und den mit ihr verbundenen Ängsten vor Existenzverlust und Hunger lassen die Arbeiter vieles mit sich machen. Mit der monotonen Fließbandarbeit im Akkord geht die Automatisierung der Menschen einher.

Die meiste Zeit ist „Moderne Zeiten“ stumm, der Fabrikchef zunächst der einzige mit einer Stimme. Die Szenen am Fließband sind generell stumm, die Arbeiter haben – nicht nur im übertragenen Sinne von Mitbestimmung – keine Stimme. Als Konzept kristallisiert sich mit der Zeit heraus, dass Toneffekte nur zu dramaturgischen Zwecken eingesetzt werden und gesprochenes Wort nur dann hörbar ist, wenn es über Maschinen vermittelt wird. Der Ton steht somit für Macht und Kontrollausübung, vorbehalten denjenigen, die über die Maschinen – und somit die Produktionsmittel – verfügen, was zugleich eine an Marx gemahnende Kritik an den Besitzverhältnissen darstellt (und an George Orwells erst später entstandenes „1984“ erinnert). Dialoge finden per gesprochenem Wort keine statt. Diese waren ursprünglich eingeplant, doch Chaplin konnte sich mit seinem Konzept durchsetzen. Seine für den Film komponierte Musik gibt den Rhythmus des Films und häufig, ähnlich wie zu Beginn die Fließbandarbeit, auch der Bewegungen seiner Figuren vor. Monotone Bewegungsabläufe gehen in Chaplins Körper über und er braucht etwas Zeit, um die mechanisch wirkenden Bewegungen wieder abzulegen. Mechanismus ergreift Besitz vom Körper und folgt damit einer allgemeinen Humorformel, nach der alles Mechanische (steife, träge, gewohnheitsmäßige, zerstreute, musterhafte, wiederholende etc.) des Menschen komisch ist. Inkongruenzen, also was nicht so ist, wie es sein soll, sind komisch. Wiederholungen sind komisch, Inversionen sind es auch.

Die Fütterungsmaschine, die an Charlie ausprobiert wird, erinnert an industrielle Anlagen zur Massentierfütterung und symbolisiert damit eine weitere Entmenschlichung. In der legendären Szene, in der Charlie ins Getriebe gerät, scheint die Maschine den Menschen im wahrsten Wortsinn aufzufressen. Die Erniedrigung der Arbeiter und der Verlust der Individualität gehen beinahe über in den Verlust des Menschseins, bis sich Charlie durch einen psychischem Stress geschuldeten Sabotageakt auf radikale Weise aus diesem Mechanismus befreit und in eine Nervenklinik eingeliefert wird. Würde der Film an dieser Stelle enden, wäre er bereits eine über jeden Zweifel erhabene, enorm bissige Satire auf Arbeiterausbeutung, geistige Abstumpfung, Optimierungswahn und Effizienzsteigerung. Doch Chaplin geht noch weiter und macht eine Art Gesellschaftsporträt daraus, wenn er von Charlies Inhaftierung, die stellvertretend für den Umgang mit aufbegehrenden Arbeitern in den antikommunistischen USA steht, erzählt. Im Knast konsumiert er versehentlich Kokain, beendet er eine Revolte und richtet er es sich gemütlich ein: Bis auf seine Verdauungsprobleme ist er dort glücklich. Im Gefängnis hat er seine Ruhe; er fühlt sich ironischerweise frei, seit er seine körperliche Freiheit gegen die geistige eingetauscht hat.

Nachdem er begnadigt wurde, versagt er kläglich auf dem Arbeitsmarkt und versucht, wieder ins Gefängnis zu kommen. Doch er lernt ein armes Hafenmädchen kennen, deren Mann erschossen wurde. Man verliebt sich ineinander und träumt den kleinbürgerlichen Traum von einem kleinbürgerlichen Leben, visualisiert als Tagtraum, in dem beide als sorgenfreies, glückliches Paar mit Eigenheim zu sehen sind. Davon angetrieben, bemüht er sich weiter um einen Job. Als sie eine Nacht im Überfluss eines Kaufhauses verbringen, wird es überfallen. Einer der Räuber entpuppt sich als ehemaliger Arbeitskollege Charlies. Sie freundet sich miteinander an und man ist vereint in Armut und Hunger. Nachdem Charlie wieder für zehn Tage inhaftiert war, holt ihn seine Freundin ab und zeigt ihm eine baufällige Bretterbude, die sie zusammen beziehen. Charlie will nun sogar wieder in der Fabrik arbeiten, um ihr ein richtiges Zuhause bieten zu können, doch sorgt er dort wieder für Chaos. Zudem wird gestreikt und er landet abermals im Kittchen. Immerhin erhält sie eine Anstellung als Tänzerin und holt ihn wieder aus dem Gefängnis ab. Sie besorgt ihm einen Job als singendem Kellner. Die Polizei sucht das Hafenmädchen mittlerweile steckbrieflich. Beim Kellnern kommt es zu einem Problem mit einer gerösteten Ente, aber auch zu tollen Tanzeinlagen, doch beim Singen vergisst Charlie den Text. Schließlich singt er einfach irgendetwas Italienischklingendes, was bei den Gästen super ankommt, woraus eine Festanstellung resultiert. Leider macht die Polizei einen Strich durch die Rechnung, als sie das Mädchen verhaften will. Gemeinsam kann man fliehen und schlendert als Tramps in Richtung Sonnenaufgang.

Neben dem wirklich herzallerliebsten barfüßigen Hafenmädchen, das von Chaplins späterer Ehefrau gespielt wird, deren Rolle den beruflichen Durchbruch für sie bedeutete, enthält der beschriebene weitere Verlauf des Films die Sehnsucht nach einem bescheidenen, vollkommen normalen Leben, das stellvertretend für den Großteil der damaligen Arbeiterschaft steht, aber auch das Aufbegehren der Arbeiterklasse durch Streiks. Ein besonderes Augenmerk verdient Charlies bizarre Tanz- und Gesangseinlage. Tanz als Freiheitsausdruck, Léo Daniderffs „Je cherche après Titine“ in einer pseudoitalienischen Kauderwelschversion als Stiche gegen den Tonfilm bzw. den ursprünglichen Druck seitens der Produktion, aus „Moderne Zeiten“ einen solchen zu machen: In dieser Form ist Ton unnütz, oder auch: vorgefertigte Tonfilm-Dialoge nehmen künstlerische Freiheit. Zugleich bedeutete dieser Auftritt Chaplins Abschied vom Stummfilm. Der Traum einer bürgerlichen Existenz zerplatzt am Ende, Charlie ist wieder der Tramp, jedoch kein einsamer mehr.

Chaplins Abrechnung mit den titelgebenden modernen Zeiten wurden natürlich sofort kommunistische Tendenzen unterstellt, was ihren Erfolg jedoch nicht verhindern konnte. „Moderne Zeiten“ hat sich seinen Platz in der Kinogeschichte als eine der bedeutendsten Gesellschaftssatiren gesichert, ist gut gealtert und nicht zuletzt ein filmhistorisches Phänomen, das (wieder-)zuentdecken ich jedem ans Herz legen kann.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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