Afterschool - Antonio Campos (2008)

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Salvatore Baccaro
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Afterschool - Antonio Campos (2008)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Afterschool

Produktionsland: USA 2008

Regie: Antonio Campos

Darsteller: Ezra Miller, Addison Timlin, Emory Cohen, Jeremy Allen White
Nach der Schule ist vor der Schule. So lautet zumindest die Devise des elitären Privatinternats, auf das Teenager Robert geht. Um nämlich zu verhindern, dass die jungen Leute, sobald die letzte Stunde geendet hat, auf dumme Gedanken kommen, hat man für die Nachmittage eine Reihe von Kursen zu unterschiedlichen Fachbereichen eingeführt, von denen jeder Schüler einen belegen muss. Es liegt auf der Hand, dass Robert sich für den Video-Club entscheidet, ist sein Alltag, sitzt er nicht gerade hinter der Schulbank, doch geprägt von den Neuen Medien. Sobald seine Zimmernachbarn aus der Tür sind, verschwindet Robert in der Bilderflut des Internets, wo er sich sinnlose Youtube-Clips genauso interessiert anschaut wie Pornos der härteren Gangart oder Aufnahmen tatsächlicher Todesfälle. Auch sonst hat er stets seine Handykamera im Anschlag und dokumentiert beispielweise heimlich den Schulgottesdienst oder filmt seine Freundin Amy. Eines Tages hat er für eine Projektarbeit im Rahmen des Video-Kurses seine Kamera im Schultreppenhaus aufgebaut. Sie soll einfach nur aufzeichnen, was dort so alles passiert oder eben nicht passiert. Dass plötzlich zwei Mädchen aus den höheren Jahrgängen blutüberströmt ins Bild taumeln und direkt vor Roberts Linse zusammenbrechen, damit hat er indes nicht gerechnet. Statt Hilfe zu holen, stürzt er zu ihnen, hält eine von ihnen in den Armen bis sie ihren letzten Atemzug getan hat. Kurz danach, im Rektoratszimmer, weiß er keine Antwort darauf, weshalb er so gehandelt hat. Dass er unter Schock steht, konstatieren die Lehrer, und dass er vielleicht besser ein paar Sitzungen beim Schulpsychologen wahrnehmen solle. Inzwischen ist auch die Todesursache der Zwillingsschwestern herausgekommen: Sie haben wohl mit Gift gestrecktes Kokain geschnupft. Während die Internatsleitung ein wahres Denunzierungssystem installiert, das vorsieht, dass jeder Schüler jeden anderen Schüler, und sei es der beste Freund oder die beste Freundin, sofort verpfeifen solle, wenn er nur den Verdacht hat, sie oder er könne irgendwas mit Drogen zu tun haben, stößt Robert im Netz auf ein Filmchen, das beweist, dass seine Kamera scheinbar nicht die einzige gewesen ist, die das Sterben der Schwestern festgehalten hat…

Wenn es einen Film gibt, an den ich bei der Sichtung von Antonio Campos‘ Debut AFTERSCHOOL denken musste, dann ist das der knapp fünfzehn Jahre zuvor entstandene BENNYS VIDEO von Michael Haneke. Die Parallelen sind, meine ich, offensichtlich: Im Fokus beider Filme steht ein eher verschlossener Teenager, der die Welt hauptsächlich über Medienbilder rezipiert und der umgekehrt mit der Welt hauptsächlich über Medienbilder kommuniziert. Dieser Teenager wird nun mit der Realität des Todes konfrontiert. Bei Benny ist diese Konfrontation eine, an der er sich aktiv beteiligt: Er erschießt zwischen Fertigpizza und Joghurtbechern mit einem Bolzenschussgerät eine Schulfreundin vor laufender Kamera. Robert begegnet dem Tod indes ohne selbst irgendwas zu dieser Begegnung beizutragen als zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein: Die beiden vergifteten Schwestern fallen ihm förmlich vor Füße und Kamera. In der Folge handeln beide Filme, BENNYS VIDEO wie AFTERSCHOOL, vor allem davon wie die jeweiligen Protagonisten nun mit dem jeweiligen Todesfall umgehen. Haneke, der es liebt, dysfunktionale Familien zu sezieren, schildert wie Bennys Eltern, immerhin Angehörige der Wiener Oberschicht, alles daran setzen, den Mord ihres Sprösslings zu vertuschen, und während die Mama mit dem Sohnemann nach Ägypten reist, ist der Papa unterdessen zu Hause damit beschäftigt, die Mädchenleiche zu zerstückeln und in kleinen Portionen außer Haus zu schaffen. Haneke schildert Bennys Elternhaus als eine Institution, in der es vor allem auf das Aufrechterhalten einer glatten Fassade ankommt, und in der das, was man wahre Emotionen nennen könnte, genauso mit der Lupe zu suchen sind wie in den billigen Splatterfilmen, die Benny sich tagaus, tagein anschaut. BENNYS VIDEO ist, für Haneke typisch, bestimmt von einer eiskalten Ästhetik, die die sowieso schon unterkühlten zwischenmenschlichen Beziehungen unserer Zeit um noch einige Temperaturstufen nach unten senkt. Die Kamera schaut mitleidlos, starr dabei zu wie Benny in Videotheken herumlungert, wie er seinen Mord begeht, wie er danach in aller Ruhe seinen Joghurt löffelt. Irgendwelche Interpretationshilfen dazu wie wir das Ganze nun einordnen sollen, dürfen wir von dieser seltsam unbeteiligten Kamera nicht erwarten, die es uns selbst überlässt, die falschen oder richtigen Schlüsse aus dem Gezeigten zu ziehen. Genau deshalb tut BENNYS VIDEO, oder Hanekes Frühwerk, wohl noch immer so weh. Es fehlt die Dramatisierung, das Moment der Identifikation, wenigstens eine Szene, in der wir bei der Hand genommen und nicht uns selbst ausgeliefert werden.

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Ähnliches kann man auch über AFTERSCHOOL sagen. Campos, in dessen Film wiederum Eltern mit der Lupe zu suchen sind, verlegt die Gletscher-Ästhetik Hanekes fort vom Gutbürgertum Wiens mitten hinein in eine US-Privatschule, die jedoch von den gleichen Paramatern dirigiert wird wie Bennys Elternhaus: Solange kein Kratzer die Fassade versehrt, ist alles in Ordnung. Ohne das Internatsleben zu irgendeinem Zeitpunkt grotesk zu überzeichnen, legt Campos einen Realismus an den Tag, der dem von Haneke in vielen Belangen nahekommt. Auch Campos‘ Kamera ist wenig an abenteuerlichen Fahrten oder sensationellen Bildkompositionen interessiert, sie verharrt stattdessen meist ruhig in irgendeinem Winkel und richtet ihre Linse ohne nennenswerte Empathie auf die Dinge, die sich da vor ihr abspielen, und sei es nun Roberts erstes Mal mit Amy, oder eine der vielen Ansprachen des Schulleiters oder Robert bei der Sichtung eines Pornos. Die Bilder sind dabei zwar schmucklos, fast schon dokumentarisch, und nichtdestotrotz oftmals ziemlich sorgfältig, und nicht ohne subtilen Witz, komponiert. In einer meiner liebsten Szenen steht Robert am Ende einer Treppe, die, vermute ich, zu den Turnhallen der Schule führt. Über ihm plaudern zwei Mädchen, für uns nur sichtbar als zwei lange, nackte Beine, zu denen Robert sehnsüchtig hinaufschaut. Da ertönt die Schulglocke und das eben noch ruhige Bild ist plötzlich voller Leben, da aus allen Richtungen Schülerinnen und Schüler in es hineinströmen. Robert wird von dem Strom mitgerissen und die zu den Beinen gehörenden Mädchen ebenfalls, und man schmeckt förmlich die juvenile Frustration, das aufgestaute Sperma und das Gefühl einer vertanen Chance. In einer früheren Szene, eine der wenigen übrigens, in der der sonst beinahe apathische Robert etwas von sich preisgibt, und zwar Selbstzweifel im Telefongespräch mit seiner Mutter, vermittelt Campos durch ein einziges Bild einen recht guten Eindruck wie das Internat, in dem der Film spielt, in seinem Innern tickt. Es ist nach Schulschluss, offenbar in einem Freizeitraum. Ein Fernseher läuft, zeigt ein Basketball-Match. Während Robert rechts in der Ecke seiner Mutter das Herz ausschüttet, die darauf aber nur abwiegelnd reagiert, schaut ein Junge interessiert dem Spiel zu und knutscht ein Pärchen direkt daneben leidenschaftlich. Respect Yourself, lautet der laue Rat auf dem Banner, das eine Wand des Raums ziert. Langeweile, Berieselung, erste Liebe und pubertäre Krisen, das alles ist großartig in dieser Szene verdichtet, ohne dass Campos dazu mehr brauchen würde als die erwähnten simplen Zutaten. In solchen Momenten wird aber dann doch ein großer Unterschied zu Haneke offenbar: Für dessen zurückgenommene Ästhetik wäre eine Bildkomposition wie die oben beschriebene wohl bereits schon zu artifiziell, zu gekünstelt. AFTERSCHOOL funktioniert im Vergleich zu BENNYS VIDEO da schon mehr wie ein gängiger Spielfilm, was wohl auch mit seinen Coming-of-Age-Elementen zu tun hat. Lehrer, die einen nicht verstehen, und Mädchen, die einen nicht mal angucken wollen, und Typen, die einen mit blöden Sprüchen nerven bis man ihnen die Fresse poliert – das ist sicher näher an der allgemeinen Lebensrealität als ein introvertiert Teenager in einem Luxusappartement, der dot mit tausend Kameras und einem Bolzenschussgerät hantiert.

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Nahe sind sich BENNYS VIDEO und AFTERSCHOOL aber wiederum in ihrem doppel- und dreifachbödigen Spiel mit den Medien und dem Medium, dem sie selbst angehören. Gleich zu Beginn lernen wir Robert in einem komplett abgedunkelten Zimmer kennen, dessen einzige Lichtquelle der Laptop-Schirm ist, vor dessen Porno-Bildern sich der Kopf des masturbierenden Jünglings undeutlich abzeichnet und sie teilweise verdeckt. Gerne wechselt Campos auch von seinen, wie gesagt, eher ornamentbefreiten Filmbildern zu den verwackelten aus Roberts Handykamera, was vor allem in einer Szene, in der Amy ihn besucht und er versucht, an ihr nachzuspielen, was ihm seine Pornos beigebracht haben, nämlich, dass man eine Frau zum Geilwerden bringt, indem man anfängt sie zu würgen, zu beklemmenden Ergebnissen führt. So unspektakulär AFTERSCHOOL auf den ersten Blick daherkommt, so versiert ist der Film aber letztlich darin, alle möglichen Tricks und Kniffe anzuwenden, um uns als Zuschauer über unseren eigenen Medienkonsum nachdenken zu lassen, grundlegende Fragen nach Lüge oder Wahrheit im Zeitalter der Neuen Medien zu stellen oder Aussagen über die Medienrezeption seiner Figuren zu treffen, indem er sie in spezifischer Weise um technische Gerätschaften herum anordnet. So wird die mehrminütigen Todesszene der Schwestern, bei der Robert, erneut, das eigentliche Ereignis durch seinen Körper verdeckt, nicht etwa als Mittler zwischen Kameralinse und Sterbenden fungiert, sondern als Schleier, der uns etwas vorenthält und uns dadurch dazu zwingt, es uns selbst zu imaginieren, plötzlich angehalten und zurückgespult, und erst da realisieren wir, dass wir ihr nicht live beigewohnt haben, sondern als Aufzeichnung im Zimmer des Rektors: Die beiden Schwestern sind dadurch, dass Robert sie zufällig beim Sterben gefilmt hat, unsterblich geworden, d.h. ihr Tod bzw. das, was wir von ihm erahnen, ist nunmehr beliebig reproduzierbar und konsumierbar. Da Robert sich im Video-Kurs besonders hervorgetan hat, wird er, wohl auch als Akt der Trauma-Bewältigung, damit betraut, einen Film zum Andenken an die Toten zu erstellen. Eine Szene soll ein Interview mit den Eltern der Mädchen sein. Recht herzlos überlässt der verantwortliche Lehrer das aufgewühlte Paar Roberts und Amys Kamera. Während sie vor Tränen kaum sprechen können, das Interview immer wieder abbrechen, schließlich der Lehrer tröstend einschreiten muss, haben Robert und Amy nur Augen für ihre Kamera, und es scheint, um die Szene überhaupt ertragen zu können, betrachten sie sie sich einzig durch die schützende Distanz der Displays.

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Als sei das noch nicht genug an Reflexionspotential – und ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass man im Prinzip jeder einzelnen Szene ansieht, wie klug und überlegt sie formal wie ästhetisch gestaltet worden sein muss, um nicht nur eine Aussage auf narrativer Ebene zu treffen, sondern auch eine, die weit darüber hinaus einem Meta-Diskurs angehört -, ist die Eröffnungsszene von AFTERSCHOOL mit Sicherheit eine der besten Eröffnungsszenen in einem Film, die ich in letzter Zeit sehen durfte. Erneut ist der Vergleich zu Haneke so nahe, dass man hinspucken kann: Während BENNYS VIDEO mit Aufnahmen Bennys von einer Schweineschlachtung auf dem Hof der Großeltern beginnt, sind wir zu Beginn von AFTERSCHOOL mitten in der bunten Welt von Youtube und Konsorten, und gucken Robert beim Surfen zu. Flink wie seine Mouse nun mal ist, reißt es ihn und uns von einem Videoschnipsel zum nächsten. Da ist ein Baby, das sich halbtot lacht darüber, dass es irgendwelches Geschenkpapier zerreißt. Da ist ein Typ, der einen Stunt mit seinem Rad machen will, und sich mitten auf die Fresse legt. Da ist eine Katze, die Klavier spielen kann. Da ist Sadam Hussein wie er am Strick baumelt. Da ist schließlich ein Mädchen, das sich einem unsichtbaren Kameramann feilbietet, von ihm gewürgt wird, die Beine für ihn breitmacht. Indem Campos all diese disparaten Bilder und Kontexte aneinanderreiht, sagt er viel über die Virtuelle Realität aus, in der Robert den Großteil seiner Freizeit verbringt. Im Netz, wo, das muss mitgedacht werden, natürlich zudem alles synchron verläuft, gibt es keine moralische Instanz mehr wie zuvor im Radio oder im Kino oder im Fernsehen, sprich: jemanden, der mein Vertrauen erweckt und der mir erklärt, wie ich dieses oder jene Bild auffassen muss, wie ich mit ihm umzugehen habe, welche politischen Implikationen von mir erwünscht sind, will ich es korrekt rezipieren. Genau diese Korrektheit fehlt in der unendlichen Transparenz des Netzes vollkommen, oder besser: sie bleibt einem selbst überlassen, ist gewissermaßen Privatsache. Genau von den Konsequenzen, die daraus erwachsen können, handeln BENNYS VIDEO und AFTERSCHOOL letztlich. Unter dem stetigen Medienbeschuss und begünstigt durch die Kälte von Elternhaus und Schule scheinen weder Benny noch Robert so etwas wie eine ihnen inhärente Moral entwickelt zu haben. Ihr Blick auf die Welt ist der einer Kamera, die filmt, was man ihr vorsetzt, die nicht entscheidet und nicht entscheiden soll. Phantastisch ist der Moment, wenn Robert begreift, dass er nicht mal ein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern bloß die Figur in einem Spielfilm ist. Er scheint etwas zu spüren, schaut sich um, blickt über seine Schulter – und uns direkt in die Augen.

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Noch viel könnte man über AFTERSCHOOL schreiben. Was die Anspielungen auf den elften September betrifft, zum Beispiel. Oder was den außerordentlich subtilen Krimiplot betrifft, wer denn der wahre Schuldige am Tod der Schwestern ist, d.h. wer ihnen das vergiftete Koks verabreicht hat. Oder inwiefern sich Querverweise zu anderen Privatinternatsfilmen wie Lucile Hadzihalilovics INNOCENCE oder Peter Weirs PICNIC AT HANGING ROCK ziehen lassen. Aber solche Überlegungen überlasse ich diesmal, in bester Youtube-Tradition, demjenigen, der diese Zeilen liest, und sich bemüßigt fühlt, sich Campos‘ kleinen, unbeachteten, intelligenten Film anzuschauen. Was sich lohnt. Nicht nur, wenn man endlich einmal wissen wollte, wie das wohl aussehen würde, würde Michael Haneke ein Coming-of-Age-Drama inszenieren.
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